Page 40 - Caridina Ausgabe 3/2022
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Eine Frage der Tentakel








                                   evolution der Schnecken in neuem Licht




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                                                                                   posthornschnecke (Planorbella duryi).
























                                                                                                                     Foto: Oliver Mengedoht










        Vier statt nur zwei Tentakel am Kopf – dieses Merkmal könnte eine   in den Fühlern dieser Schnecken verlaufen an der Basis noch fast
        der Grundlagen für die große Vielfalt an Schnecken sein. Forscher   zusammen und spalten sich zum Ende hin auf. „Diese Form der Sin-
        der SNSB (Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns)   nestentakel war bisher unbekannt – Schnecken hatten sonst ent-
        und der Universität von Tokyo haben durch genetische Analysen   weder ein paar Fühler oder zwei, aber kein Mittelding,“ erläutert
        herausgefunden, dass Schnecken vor 400 bis 300 Millionen Jahren   Bastian Brenzinger, Schneckenforscher an der Zoologischen Staats-
        begannen, vier Tentakel anstatt zwei zu entwickeln.    sammlung München (SNSB-ZSM) und Erstautor der Studie.
          Erdgeschichtlich war dies nur kurz vor der evolutionären Ex-  Wissenschaftler der Zoologischen Staatssammlung München
        plosion, nach der wiederum fast 40 Prozent aller heute lebenden   und der Universität Tokyo haben viele Daten zu teils winzigen
        Weichtierarten entstanden sind. In ihren Tentakeln sind alle Sinne   Meeres- und Landschnecken analysiert, um deren Entwicklungs-
        versammelt: Schnecken riechen, schmecken, tasten oder sehen   geschichte aufzudecken. Manche von ihnen sind nur wenige Hun-
        mit ihren Sinnesantennen. Rund die Hälfte aller Schnecken verfügt   dert Mikrometer lang, wie etwa die Meeresschnecke Tjaernoeia
        über zwei Tentakel. Die andere Hälfte, die sogenannten Euthy-  exquisita mit rund einem halben Millimeter Körperlänge, eine
        neura, besitzt vier. Bei ihnen sind beispielsweise Geruchs- und   der kleinsten lebenden Schneckenarten. Mithilfe von dreidimen-
        Geschmackssinn voneinander getrennt.                   sionalen Rekonstruktionen machten die Schneckenforscher die
          Artenforscher aus München und Tokio entdeckten sogenannte   Kopfanatomie sowie das zentrale Nervensystem der Tiere sichtbar.
        „Missing Links“, fehlende Bindeglieder der Evolution, zwischen
        den beiden Schneckengruppen: Die Fühler am Kopf von winzigen   Übersehenes Schlüsselereignis
        Meeresschnecken-Arten der Gattungen Parvaplustrum und Tjaer-  Eine ausführliche Diagnose von genetischen Daten der Schnecken
        noeia sind an deren Ende gabelartig gespalten. Die Nervenstränge   ermöglichte den Experten neue Einblicke in die Vergangenheit




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