Page 3 - diy Fachmagazin Ausgabe 5/2020
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Kommentar
Die echten
Leistungsträger
Es ist ja schön, dass allabendlich zumindest eine unsere pflegebedürftigen Eltern – ja was wohl?
Zeit lang die Deutschen an den Fenstern und auf – … würden, ohne die die dauerhafte Überwa-
den Balkonen standen und all den in Coronazei- chung von Beatmungsgeräten nicht gewährleis-
ten besonders wichtigen Berufen und Tätigkeiten tet wäre, ohne die der ÖPNV zusammenbrechen
ihren Respekt und ihre Unterstützung durch Bei- und kein Gebäude gereinigt werden würde, ohne
fall bekundeten. Klar ist, viele derjenigen, die sich die ich aber auch kein Toilettenpapier, keine
in Heil-, Pflege- und Serviceberufen engagieren, Dosenravioli, keine Dübel und keine Blumenerde
haben diesen Respekt erstens ver- nach Hause tragen könnte. Wir lernen:
dient und zweitens hilft es sicherlich „Systemrelevanz“ hat keinen Blick-
auch psychologisch, die momentan winkel, die „Leistungsträgerschaft“
beruflich besonders belastenden Zei- ist auch nicht für die „Entschei-
ten etwas besser durchzustehen. dungsträger“ reserviert.
Es muss jedoch auch festgestellt Letztendlich ist es ein Skandal,
werden: Beifall ist billig, er kostet we- dass laut DIW der Frauenanteil an
nig, nur etwas Zeit und ein paar Kalo- diesen systemrelevanten und mise-
rien. Plötzlich entdecken wir unser rabel bezahlten Berufen rund 70
Herz für eine ganze Anzahl von Beru- Prozent beträgt. Hinzu kommt, dass
fen, die wir lange Zeit vielleicht intel- zwar die Verdienstlücke zwischen
lektuell definiert und mir nichts dir nichts ein- Frauen und Männern in diesen Bereichen (Gen-
fach dem „Niedriglohnsektor“ zugeordnet haben, der Pay Gap) geringer ist als im Durchschnitt al-
emo tional waren wir den weiblichen und männli- ler Berufe („nur“ 20 Prozent), das liegt aber dar-
chen Altenpflegern, Müllmännern und Verkäufe- an, dass das Lohnniveau in diesen Berufen
rinnen jedoch meilenweit entfernt. grundsätzlich gering ist. Da muss sich was tun,
In der letzten großen Krise – Sie erinnern sich auch in unserer Branche. Jede Verkäuferin, jeder
noch dunkel? In der Banken- und Wirtschaftskri- Regalauffüller, jeder Fahrer ist genauso wichtig
se von 2008ff – erklärten wir all die Banker und wie ein Regionalvertriebsleiter oder ein CEO. Es
IT- und Versicherungsspezialisten, all die Mana- müssen endlich auch hier den schönen Sonn-
ger im mittleren und höheren Management als tagsreden Taten folgen.
„Leistungsträger“, als unverzichtbare Bestandtei-
le unserer neoliberalen Wirtschaftsordnung.
Banken und Versicherungen galten als „system- Herzlichst Ihr
relevant“ und mussten mit Milliardenbeträgen
gerettet werden. Mit dem Geld der europäischen
Steuerzahler und dies, obwohl die zu Rettenden
doch die Krise selbst verschuldet hatten. Dr. Joachim Bengelsdorf
Wie sich die Zeiten ändern! Jetzt, da viele
Deutsche Angst davor haben, zu wenig Toiletten-
papier zuhause zu haben, richtet sich unser Blick
tatsächlich auch einmal nach unten und – hopp- Tel.: +49/7243/575-208 • j.bengelsdorf@daehne.de
la, da sind ja doch tatsächlich welche, ohne die
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DIY2020-05_Inhalt_Buch.indb 3 20.04.2020 09:13:57